Digitalisierung der Prozesslandschaft

Digitalisierung der Prozesslandschaft

Was wir von Bleistift und Papier lernen können


Autor: Dr. Margit Sarstedt



Digitalisierung, IT Lösungen, Prozessautomatisierung – dass dies nun Einzug hält, diese Aussage ist längst überholt. Denn es ist schon da – und es läuft – oder etwa nicht? Bei der Einführung digitaler Systeme gerade in produzierenden Unternehmen zeigen sich häufig Schwierigkeiten. Aber sind dies Schwierigkeiten mit den digitalen Systemen oder vielmehr Schwierigkeiten mit den logischen Prozessabläufen? Was müssen wir tun? Schauen wir uns dies näher an.



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Digitalisierung der Arbeitsabläufe


Viele Arbeitsabläufe sind über die Jahre hinweg gewachsen. Sie funktionieren – irgendwie – weil alle Hindernisse in den Prozessabläufen im Laufe der Zeit erkannt wurden und durch flexibel-funktionierende Ersatzprozesse ersetzt wurden. Historisch gewachsen wie eine schöne Altstadt in Europa. Optimiert sind diese funktionierenden Lösungen jedoch nicht, häufig ganz im Gegenteil. Überall herrscht ein Wirrwarr, es kommt zu Staus, ganze Themenbereiche gehen verloren.


Aber auch am Reißbrett geplante Abläufe unterliegen sehr schnell den Veränderungen der Zeit. Da wachsen kleine Trampelpfade, andere Strukturvorstellungen kommen auf, und einen Hügel kann man nur mit kurvenreichen Wegen umrunden. Und genau das passiert mit den perfekt geplanten Geschäftsprozessen. Sobald man die standardisierten Prozesse einer vorgefertigten Lösung auf ein Unternehmen anwendet, da halten auch schon die Ausnahmen und Abweichungen Einzug. 


Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass die Einführung digitaler Prozesse gar nicht so einfach ist. Denn wenn das reale Geschehen von den täglichen kreativen Lösungen im Kleinen abhängt, wie soll man dies dann in digital kodierte Abläufe übersetzen, wie soll man den Geschäftsabläufen ein festes Korsett verpassen? Man könnte fast meinen, hier stehen sich die Forderung nach Agilität und die Forderung nach Digitalisierung gegenseitig im Wege. Aber beide haben ihre Berechtigung, beiden gilt es gerecht zu werden. Die Aufgabe ist also klar, die Lösung müssen wir erarbeiten.

Digitalisierung – schauen wir uns an, wie man es nicht machen sollte


1. Einführung einer „perfekten“ standardisierten digitalen Prozesslandschaft, ohne vorherige Analyse der gewachsenen Ist-Prozesse – nach dem Motto „die handelnden Menschen sollen sich einfach an das Neue gewöhnen“.

   Dieser erste der zwei falschen Ansätze führt nicht nur zu Frustration unter den Mitarbeitern, sondern zwingt auch das agil-florierende Geschäftsgeschehen, sich den kodierten und damit steifen Abläufen unterzuordnen.


2. Präzise und detaillierte Bestandsaufnahme der Ist-Prozesse – nach dem Motto „die IT Experten sollen es einfach exakt so abbilden, wie es nun mal gelebt wird“.

   Dieser zweite der zwei falschen Ansätze führt dazu, dass all die alten Umwege und Ersatzprozesse nun auch noch in digitaler Form regelrecht zementiert werden und somit jeglicher Prozessverbesserung Einhalt geboten wird.

Wie also kommen wir zu einer sinnvollen Lösung?


Zunächst möchte ich meiner wahren Überzeugung Ausdruck geben: Geschäftsprozesse in produzierenden Unternehmen sind NICHT Sache der IT. Sie sind auch nicht Sache von Finance, oder der Entwicklung, oder irgendeines anderen hochspezialisieren Fachbereichs. Denn die gesamtheitliche Sicht auf ein Unternehmen gehört üblicherweise nicht zu den Kernkompetenzen dieser jeweiligen Experten.


Von ihrer grundlegenden Fragestellung her sind Geschäftsprozesse also Sache des jeweiligen Managements auf allen Ebenen. Dies begründet sich nicht nur durch den Vogelflugblick, der für das Erkennen der Zusammenhänge benötigt wird, sondern auch durch die in der integrativen Betrachtung verborgen strategische Fragestellungen.


Um nun Klarheit über eine neue Soll-Struktur eines Unternehmens zu gewinnen, empfehle ich zunächst die folgenden vier Grundfragen:


1.   Was machen die Maschinen?

2.   Was machen die Menschen?

3.   Wo läuft das Material?

4.   Wo laufen die Informationen?

Einfach? Nicht wirklich!


Schauen wir uns das mal am simplen Beispiel eines Produktionsmitarbeiters an, der an einer Anlage Verbrauchsmaterial nachfüllt.


   Was machen die Maschinen?

-> Verarbeitung des Materials im eigentlichen Wertschöpfungsschritt
-> Automatische Meldung, dass Material nachgefüllt werden muss
-> Später dann Zustandsmeldung, dass wieder alles in Ordnung ist

   Was machen die Menschen?

-> Entnahme des Materials aus dem Lager, Lagerbuchung
-> Bedienung des Nachfüllmechanismus der Maschine
-> Entsorgung der leeren Behälter des Materials
-> Fertigmeldung des Wartungsauftrags

   Wo läuft das Material?

-> Automatisiert vom Hochregallager zur Entnahmestation
-> Händisch auf einem Wagen zur Anlage
-> Automatisiert innerhalb der Anlage zum Verarbeitungspunkt

   Wo laufen die Informationen?

-> Von der Anlage als Daten in das zentrale MES Systems
-> Vom MES System über visuelle Ausgabe an den Vorarbeiter
-> Von dem Vorarbeiter mündlich zum Mitarbeiter
-> Von dem Mitarbeiter händisch in das Datensystem


    Und verborgen darin gibt es noch viele kaum fassbare Details (z. B. etwas ist anders an Maschine A als an Maschine B). Die Mitarbeiter an der Anlage wissen es, aufgeschrieben ist es nirgends – kommt Ihnen bekannt vor? Ja, darin stecken die Schwierigkeiten. Und um wieviel umfangreicher gestalten sich die Prozesse bei zum Beispiel einer Geschäftsjahresplanung!


    Auf IT Seite führt dies alles, im Detail analysiert und nachempfunden, zu Millionen von Anwendungsfällen (use cases). Und mit jedem neuen Fall kommt mehr Konfusion in die Programmierung und in die spätere Anwendung selbst. Ich bin deshalb der Überzeugung, dass zunächst auf Managementebene entschieden werden muss, in welcher Detailtiefe eine Digitalisierung greifen soll. Leitfaden bei dieser Entscheidung sind die zwei Fragen, (1) welche Variabilität gezielt eingeschränkt werden soll, und (2) wo das agile Agieren von Menschen erhalten bleiben soll.

    Meiner Erfahrung nach …


    … geht dies nur dann, wenn in der gesamten Belegschaft ein Grundverständnis für diese Fragestellungen geschaffen wird. 


    Die Initiative muss, wie oben beschrieben, vom Management ausgehen, und dort müssen auch die Entscheidungen getroffen und vor allem verantwortet werden. Am Gesamtbild wirken jedoch alle Beteiligten mit. Die Motivation dafür kommt aus dem Verständnis der Ziele, und sie entsteht mit einer spielerischen Methode zum Erkenntnisgewinn über die eigene Arbeitsumgebung.


    Warum spielerisch? Immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Reduzieren der Komplexität auf eine übersichtlich simulierte Welt, eine Spielfläche, eine ordentliche Analyse der Zusammenhänge überhaupt erst ermöglicht. Es löst rundum diejenigen aha Erlebnisse aus, die für das gemeinsame Verständnis der wirkenden Arbeits- und Informationsflüsse notwendig sind. In Seminaren und Workshops arbeite ich deshalb auch gerne mit leicht greifbaren Dingen, mit fassbaren Modellen, langsam ablaufenden Simulationen, mit Bleistift und Papier, um die realen Abläufe durchzuspielen. Denn es geht immer zuerst um die Logik der Abläufe.


    Die spätere Realisierung der Digitalisierung macht dann „nur“ die Abläufe schneller und erlaubt die Verarbeitung großer Datenmengen, die Logik muss vorher klar sein. Im Vorfeld der Prozessdigitalisierung ist also unbedingt dafür Sorge zu tragen, dass die Ablauf-Logik in der „Gesamt-Welt“ – also in allen oben aufgeführten vier Aspekten – stimmig ist, damit die entstehende digitale „Teil-Welt“ dann ebenfalls stimmig wird. Richtig angewandt, hat man sich dann einen Baukasten geschaffen, der die menschliche Agilität in der automatisierten Welt nicht verhindert sondern unterstützt. Ersatzprozesse haben erst dann ausgedient, wenn die Hauptprozesse richtig ausgelegt sind und mit Offenheit auch agiles Handeln zulassen.

    Mein Fazit zur Digitalisierung in produzierenden Unternehmen


    • Nutzen Sie die Gelegenheit der Digitalisierung, um die Gesamtheit Ihrer Geschäftsprozesse wirklich zu beleuchten und neu zu gestalten.
    • Legen Sie diese Arbeit nicht in die Hände der IT, sondern nutzen Sie die übergeordnete Sichtweise der Hierarchieebenen; gehen Sie die Abläufe dabei von oben nach unten an.
    • Schränken Sie Ihr Business nicht durch unflexible automatisierte Prozesse ein, sondern planen Sie die Prozessabläufe gesamtheitlich, also inklusive der menschlichen Prozessschritte.
    • In Seminaren und Workshops simulieren Sie die realen Arbeitsabläufe spielerisch, mit Bleistift und Papier, und beobachten Sie was passiert.
    • Treffen Sie dann Ihre Entscheidungen über die sinnvolle Detailtiefe der Prozessautomatisierung; erst dann sollte die digitale Umsetzung erfolgen.